Im Bundesgerichtshof - Gedenken an Vertreter des Nazi-Regimes
Plädoyer für die Entfernung einer Gedenktafel

Gedenktafel an die Reichsgerichtsräte und Reichsanwaltschaft im Dritten Reich
Gedenktafel an die Reichsgerichtsräte und Reichsanwaltschaft im Dritten Reich.

Seit dem 24.10.1957 hängt an exponierter Stelle diese Gedenktafel im Hauptgebäude des Bundesgerichtshofes, im sog. Palais, in Karlsruhe. Enthüllt wurde sie von dem ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Dr. h.c. Hermann Weinkauff. Aufgrund räumlicher Veränderungen erhielt die Gedenktafel später einen Platz im Bereich der Galerie des ersten Obergeschosses des Gebäudes. Die Tafel misst etwa 1,10m x 1,80m und assoziiert mit dem Hinweis auf das Lager Buchenwald nationalsozialistisches Unrecht. Das ist eine Assoziation, die möglicherweise bisher einen "Bildersturm" verhindert und dazu geführt hat, dass die Tafel über Jahrzehnte hinweg bis März 2018 ohne jeden Hinweis, welcher Personen gedacht wird, im Palais verblieben ist. Bis März 2018 ist denen, die ihr Recht beim Bundesgerichtshof gesucht hatten, dadurch verborgen geblieben, dass die Tafel zum Gedenken hoher Repräsentanten des Nazi-Regimes aufruft, die, wie die im März 2018 angebrachte, erläuternde Tafel formuliert, "u. a. auch an Unrechtsurteilen, zum Beispiel wegen Rassenschande, beteiligt waren"[1].

Jene 31 Richter des Reichsgerichts und die drei Reichsanwälte, derer gedacht wird, wurden nach Kriegsende im Anschluss an ihre Inhaftierung durch Angehörige des NKWD[2] verhaftet und zunächst in das Lager Mühlberg/Elbe, dann später, soweit sie nicht schon an den Folgen der Inhaftierung im Lager Mühlberg/Elbe umgekommen waren, in das Lager Buchenwald überstellt. Bis 1945 war das Lager Mühlberg/Elbe Konzentrationslager in dem überwiegend russische Kriegsgefangene zu Tode gequält wurden[3]. Wir können nicht davon ausgehen, dass die sowjetische Besatzungsmacht die bei Kriegsende im Lager Mühlberg/Elbe vorgefundenen Zustände verändert hat.[4] Die Lebensbedingungen im Lager waren nach den Aussagen von Zeitzeugen[5] unmenschlich. Unter diesen Verhältnissen sind die inhaftierten Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte zu Tode gekommen. Das lässt sich jedoch für jeden, über dessen Tod während der Lagerhaft berichtet worden ist[6], sei es vor oder nach Kriegsende, festhalten. Für das Lager Buchenwald gilt nichts anderes[7].

Volkert Vorwerk[8] bat im März 2017, nachdem er viele Jahre in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Mandanten und Besuchern des Bundesgerichtshofes erläutert hatte, wem auf der Gedenktafel gedacht wird, die Präsidentin des Bundesgerichtshofes, Bettina Limperg[9], neben der Gedenktafel eine erläuternde Tafel anzubringen, "auf der in wenigen Worten erklärt wird, aus welcher Zeit diese Gedenktafel stammt und welcher Geist jene Zeit bestimmt hat"[8]. Dieses Bekenntnis, so Vorwerk im Brief, "zur Distanz gegenüber jener Gedenktafel sollten wir verkörpern"[8]. Mitte Juli 2017, am 18.07.2017, übermittelte Vorwerk, weil nichts Sichtbares geschah, der Präsidentin des Bundesgerichtshofes einen weiteren Brief, in dem er darauf hinwies, dass seit November 1957 die Namen der Herren, derer gedacht wird, öffentlich bekannt sind[10]. Die Namen der Richter und Reichsanwälte seien auch im Totenbuch "Speziallager Nr. 1 des sowjetischen NKWD, Mühlberg/Elbe" vermerkt[6]. Die Zugehörigkeit der Gedachten zu den einzelnen Senaten des Reichsgerichts sei der Zusammenstellung von Kaul[11] zu entnehmen; die Zusammenstellung sei als Anlage zum Schreiben beigefügt. Die Reichsgerichtsräte, Dr. Francke, Dr. Froelich, Grahn, Guth, Dr. Hoffmann, Dr. Iber, Dr. Kamecke, Dr. Köllensberger, Dr. Pawelka, Dr. Rusche, Dr. Wernecke und Dr. Ziegler, derer neben anderen über die Tafel gedacht werde, seien ebenso wie Reichsanwalt Dr. Nagel sowie OStA Ebel an Urteilen beteiligt gewesen, über die schon seit vielen Jahren in der Literatur als Beispiele nationalsozialistischen Unrechts berichtet werde. Die entsprechenden Hinweise seien in der schon 1971 von Kaul[11] verfassten "Geschichte des Reichsgerichts, 1933 bis 1945", Band IV, S. 324 ff, zu entnehmen, der über entsprechende Urteile unter Angabe der Fundstelle in der amtlichen Sammlung des Reichsgerichts (RGSt) inhaltlich berichte. Das unter dem 18.07.2017 datierte, von Vorwerk verfasste Schreiben an die Präsidentin des Bundesgerichtshofes[10], endet mit den Worten:

Wir dürfen, zumindest wir, die wir diese Erkenntnisse nunmehr haben, nachdem in den Jahrzehnten zuvor niemand den Mut gefunden hat, die Gedenktafel öffentlich zu hinterfragen, nicht mehr schweigen oder nach einer "Historiker-Kommission" rufen, die uns Entscheidungen abnehmen soll, die wir selbst (!) treffen müssen. Der Bundesminister der Justiz, Heiko Maas, hat vor Kurzem ein Buch herausgegeben, das über "furchtlose Juristen" in der Nazi-Zeit berichtet. Wir sollten vermeiden, dass spätere Generationen uns als "furchtsame" oder gar "feige" Demokraten bezeichnen.

Da Vorwerk von der Präsidentin des Bundesgerichtshofes im August 2017 lediglich die Mitteilung erhalten hatte, dass sie "sowohl das Thema der Tafel als auch das weitergehende Thema einer Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte des Bundesgerichtshofes weiter verfolge", eine erläuternde Information im Bereich der Gedenktafel jedoch weiterhin unterblieb, nahm Vorwerk Anfang Februar 2018 in einem Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" öffentlich daran Anstoß, dass die Gedenktafel auch gegenüber Personen ein ehrendes Gedenken einfordere, die über die von ihnen gefällten Urteile als Vollstrecker der NS-Ideologie schweres Unrecht auf sich geladen haben.

Hinweisschild zur Gedenktafel an die Reichsgerichtsräte und Reichsanwaltschaft im Dritten Reich
Hinweisschild zur Gedenktafel an die Reichsgerichtsräte und Reichsanwaltschaft im Dritten Reich.

Am 14.03.2018 erläuterte die Präsidentin des Bundesgerichtshofes anlässlich des jährlichen Pressegespräches des Bundesgerichtshofes den anwesenden Pressevertretern, dass sich nunmehr der Zeithistoriker Prof. Michael Kißener und der Rechtshistoriker Prof. Andreas Roth ab dem 01.04.2018 u. a. mit der Gedenktafel befassen würden. Zudem gab ein auf dieser Pressekonferenz beruhender Artikel in der örtlichen Presse bekannt, dass auch die Geschichte des BGH aufgearbeitet werden solle[12]. Im März 2018 ließ die Präsidentin des Bundesgerichtshofes schließlich folgende erläuternde Tafel neben der Gedenktafel anbringen.

Geplant war für das Jahr 2020 ein Symposium unter dem Titel "Entsorgung der Vergangenheit? - Gedenktafel zur Erinnerung an 34 Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte im Bundesgerichtshof", das von der Präsidentin des Bundesgerichtshofes initiiert war und am 29.06.2020 stattfinden sollte. Anfang Mai 2020 musste dieses Symposium aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Hindernisse abgesagt werden. Ein für 2021 angekündigter Ersatztermin fiel aus denselben Gründen aus[13]. Das Symposium soll nunmehr im sog. Hybridformat am 20.06.2022 stattfinden.

Diese Internetseite veröffentlicht unter Anonymisierung der von den Urteilen Betroffenen jene Urteile, an denen die im Bereich des Strafrechts tätigen Richter und Reichsanwälte beteiligt waren, derer auf der Gedenktafel gedacht wird; Urteile, die auf der verbrecherischen Ideologie der NS-Herrschaft beruhen. Die Urteile entstammen den Bänden der gesammelten Urteile der entsprechenden Strafsenate des Reichsgerichts. Die Bände sind nach der Wiedervereinigung 1990 in den Bibliotheksbestand des Bundesgerichtshofes übernommen worden. Aufzufinden waren die Urteile, indem jedes im Band vorhandene Urteil darauf untersucht worden ist, ob einer der durch die Gedenktafel geehrten Reichsgerichtsräte oder Reichsanwälte am Urteil mitgewirkt hat. Die Forschungsarbeit, initiiert von Vorwerk, von ihm finanziert und auch selbst begleitet, fand zwischen Juli 2017 und Anfang 2018 statt. Damals schien es nötig, den Verantwortlichen Material zur Verfügung zu stellen, um beurteilen zu können, ob die Gedenktafel unkommentiert oder kommentiert in den Räumen des Bundesgerichtshofes noch heute Platz hat; ganz nahe dem Sitzungssaal, in dem der VII. Zivilsenat seine öffentlichen Verhandlungen führt. Die Gedenktafel ist so jedem sichtbar, der ein Verfahren zur Entscheidung des VII. Zivilsenats gebracht und sich zur Teilnahme an seinem Termin, ebenso wie die Zuhörer, auf den Weg nach Karlsruhe gemacht hat. Sichtbar ist die Tafel aber auch für jeden Richter vieler Richter-Generationen nach ihrer Anbringung im Jahr 1957 gewesen. Nach ihrer Anbringung im Bereich der Galerie des ersten Obergeschosses des Palais war sie ebenso für jeden Präsidenten des Bundesgerichtshofes sichtbar, da der Blick auf die Tafel unweigerlich auf dem Weg in das Amtszimmer des Präsidenten fällt. Sichtbar damit auch für jeden Bundesminister der Justiz, der seit diesem Zeitpunkt dem Präsidenten und der Präsidentin des Bundesgerichtshofes den Antrittsbesuch im Palais des Bundesgerichtshofes abgestattet hat.

Heute steht neben der Gedenktafel ein unübersehbares Banner, das über Hintergründe der Tafel aufklärt.

Dass Vorwerks Forschungsarbeit sich auf die im Strafrecht tätigen Richter und Reichsanwälte beschränkt hat, beruht auf dem formalen Aufbau von Strafurteilen. Das Strafurteil nennt oberhalb des Rubrums, zumeist also sogleich auf der ersten Seite des Urteils, die strafrechtliche Norm, die Grundlage der Verurteilung ist. Anhand der angewandten Strafnormen konnte recht schnell die Frage beantwortet werden, ob nationalsozialistisches Unrecht die Verurteilung trug. Urteile, die im Zivilrecht ergehen, nennen in der Nähe des Rubrums nicht die Norm, die Grundlage der Entscheidung ist. Die Norm wird, wenn überhaupt, in den Entscheidungsgründen erwähnt. Die Forschungsarbeit, die sich mit der Verantwortung der durch die Tafel gedachten Richter der Zivilsenate des Reichsgerichts befasst hat, hätte den gesteckten Zeitrahmen gesprengt. Unweigerlich hätte sich jene Arbeit auf das Studium der gesamten Zivilurteile des Reichsgerichts seit 1933 erstrecken müssen, an denen einer der Zivilrichter, derer ebenfalls über die Tafel gedacht wird, mitgewirkt hat.

Das Ergebnis der von Vorwerk verantworteten Untersuchung ist in einer chronologisch sortierten Excel-Tabelle enthalten. Darin sind mit Aktenzeichen erfasst und verlinkt 397 Entscheidungen des Reichsgerichts von 1933 bis 1945 im Wortlaut nachzulesen.

Der Zeithistoriker Prof. Michael Kißener und der Rechtshistoriker Prof. Andreas Roth, die als Historikerkommission beauftragt waren, sich der Gedenktafel zu widmen, sind zu dem Ergebnis gekommen, dass außer einem alle in den Lagern umgekommenen Richter und Reichsanwälte sich im nationalsozialistischen Unrecht verstrickt haben. Das von der Präsidentin des Bundesgerichtshofes in Auftrag gegebene Gutachten ist, soweit ersichtlich, bisher leider nicht veröffentlicht worden.

Unser aller Aufgabe ist, die Gedenktafel unter Aufrechterhaltung ihrer Substanz zu "zertrümmern", indem wir sie im entstehenden "Forum Recht"[14] aufstellen und erklären und das Umfeld, in dem sie Bestand hatte, bis in unsere Zeit erläutern, um zu beleuchten, dass das Vergessen die Opfer höhnt.

Dank gilt Heike Piorreck, Michael Keilbach, Frank Buch sowie Dietrich Pannier dafür, dass die Ergebnisse der Untersuchung auf dieser Internetseite veröffentlicht werden konnten; Dank gilt ebenso Corren Vorwerk, der sich den technischen Fragen der Erstellung der Internetseite gewidmet hat.


Fußnoten

[1]
vgl. Text der Hinweistafel, 2. Absatz aE
[2]
vgl. dazu die Personalakten der inhaftierten Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte; vgl. Rede von Weinkauff zur Enthüllung der Gedenktafel am 24.10.1957, DRiZ 1958, S. 249 f und NJW 1957, S. 1869
[3]
Webseite Lager Mühlberg, Abrufdatum 19.04.2022
[4]
Website Lager Mühlberg und Wikipedia, Abrufdatum 19.04.2022
[5]
Vgl. dazu die Literatur auf der Webseite Lager Mühlberg, Abrufdatum 19.04.2022
[6]
Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (Hrsg.), Totenbuch - Speziallager Nr. 1 des sowjetischen NKWD, Mühlberg / Elbe; ISBN-10: 3000269991, ISBN-13: 978-3000269998
[7]
Vgl. Webseite Lager Buchenwald - Historischer Überblick, Abrufdatum 19.04.2022; vgl. zur weiterführenden Literatur Webseite Lager Buchenwald, Abrufdatum 19.04.2022.
[8]
Brief vom 08.03.2017 von Vorwerk an die Präsidentin des Bundesgerichtshofes
[9]
Vgl. dazu den Lebenslauf auf der Webseite des Bundesgerichtshof von Frau Limperg, Abrufdatum 19.04.2022
[10]
Brief vom 18.07.2017 von Vorwerk an die Präsidentin des Bundesgerichtshofes
[11]
Kaul, Friedrich Karl: Geschichte des Reichsgerichts, Bd. IV, 1933 - 1945
[12]
Artikel Badische Neueste Nachrichten (BNN), Der BGH blickt auf seine Geschichte", 17.03.2018
[13]
Schreiben von der Präsidentin des Bundesgerichtshofes Limperg vom 14.05.2021
[14]
Stiftung Forum Recht, gegründet durch Bundesgesetz, Gesetz zur Errichtung der „Stiftung Forum Recht“ (Forum-Recht-Gesetz – ForumRG) v. 13.5.2019, BGBl. I, S. 731. Zweck der Stiftung ist, in einem auf Bürgerbeteiligung angelegten Kommunikations-, Informations- und Dokumentationsforum aktuelle Fragen von Recht und Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland als Grundvoraussetzung einer funktionsfähigen und lebendigen Demokratie aufzugreifen und diese für alle gesellschaftlichen Gruppen in Ausstellungen und Aktivitäten vor Ort und im virtuellen Raum erfahrbar werden zu lassen. Dabei sind die historischen, europäischen und internationalen Bezüge angemessen zu berücksichtigen (vgl. § 2 Abs. 1 ForumRG).